„... es gab so nette Leute dort.“ Jüdische St. Pöltner 1850-1984

„Better late than never“ (Rosa Kubin, geb. Lustig, St. Pölten–Massachusetts)

Der Anstoß, ein Forschungsprojekt zur jüdischen Gemeinde St. Pölten zu beginnen, kam von dem damals etwa dreißigjährigen Martin Gewing aus Kalifornien. Er schrieb am 7. Oktober 1995 an Frau Maria Diete, Lederergasse 12, dass er den Spuren seiner Familie nachgehe, von der ein Teil aus St. Pölten stammt; sein Großonkel und seine Großtante Hermann und Karoline Gewing, wohnhaft Domgasse 7, waren an einen unbekannten Ort deportiert worden.

Maria Diete starb vor vielen Jahren, sie war bis zur Auflösung der jüdischen Gemeinde als nichtjüdische Hausbesorgerin der Synagoge angestellt. Die Familie Diete wurde im Mai 1940 nach dem Einzug der SA-Standarte 21 in die Synagoge aus der Wohnung geworfen, weil es für die SA „untragbar“ war, dass „die ehemaligen Hausbesorger beim Judentempel ihre Tätigkeit bei der SA fortsetzen“. Mir wurde durch Martin Gewings Brief einmal mehr klar, wie wenig wir über die jüdischen St. Pöltner wussten, und dass es höchste Zeit war, mit den Forschungen zu beginnen. Dr. Hans Morgenstern, der 1947 als Neunjähriger mit seinen Eltern aus Palästina zurückgekehrt war, war uns dabei eine große Hilfe; er hatte mit etwa zwanzig in alle Welt verstreuten St. Pöltner Juden und Jüdinnen über die ganzen Jahre hinweg Kontakt gehalten. Die Mundpropaganda brachte weitere Ansprechpartner/innen.



 Meine Kollegin Eleonore Lappin und ich schickten 35 detaillierte Fragebögen an die ehemaligen St. Pöltner Jüdinnen und Juden und führten in Österreich und Israel fünfzehn ausführliche mündliche Interviews durch. Viele unserer Gesprächspartner/innen stellten uns wertvolle Fotos und Dokumente zur Verfügung, die sie in ihre Zufluchtsländer retten konnten. Parallel dazu arbeiteten die beiden St. Pöltner Geschichtsstudenten Matthias Lackenberger und Christoph Lind an Diplomarbeiten über die jüdische Gemeinde ihrer Stadt.

Die Erinnerungsstücke der St. Pöltner Juden bildeten im November 1998 die Grundlage für die  Ausstellung „… es gab so nette Leute dort“: Jüdische St. Pöltner 1850–1984 (1850 Ansiedlung, 1984 Renovierung der Synagoge) zum zehnjährigen Jubiläum unseres Instituts und zur Erinnerung an die 60 Jahre zurückliegende Novemberpogrome. Unter dem Motto „Geteilte Geschichte – gemeinsame Erinnerung“ wurde ein Jahr davor ein Initiativkomitee gegründet, dessen Vorsitz Bürgermeister Willi Gruber innehatte und dem weiters Dir. Ing. Adolf Hasenauer, Dr. Hans Morgenstern, Prälat Dr. Johann Oppolzer, Gen. Dir. Franz Rupp, Präs. Adolf Stricker und Intendantin Mimi Wunderer angehörten.

Die Ausstellung, textlich von Martha Keil und grafisch von Renate Stockreiter gestaltet, stellte in neun Stationen das Leben der jüdischen Gemeinde St. Pölten dar: das religiöse und politische Engagement, den Alltag, das rege Vereinsleben insbesondere der zionistischen Jugend, die Freizeitgestaltung und das Zusammenleben mit den nichtjüdischen St. Pöltnern. Besonderes Augenmerk lag auf den Schicksalen der einzelnen Menschen in der NS-Zeit, ihrer Beraubung, Vertreibung, dem Überleben im KZ oder als U-Boot. Zum jeweiligen Thema konnte man auf CDs jüdische und nichtjüdische St. Pöltner/innen erzählen und sich erinnern hören. Zwei Stationen auf dem Chor waren der Geschichte der Synagoge, den Rabbinern und Kantoren der Gemeinde und dem religiösen Leben allgemein gewidmet.

Die Ausstellung wurde abgesehen von etwa 500 erwachsenen Besuchern von mehr als 50 Schulklassen gesehen. Jede Schulklasse erhielt eine einstündige sachkundige Führung, und die zwischen 12 und 18 Jahre alten SchülerInnen zeigten sich aufmerksam, gut vorbereitet und berührt. 

Die letzte Station der Ausstellung bot die Gelegenheit, einen Beitrag auf Klebezetteln an einem Pinboard zu veröffentlichen. Bis auf eine einzige Nachricht, die die Ausstellung mit „So a Sch...“ kommentierte, wiederholten sich die Worte „informativ, interessant, berührend, herzzerreißend, lässt uns das Leben der Juden besser verstehen, sehr gelungen, supertoll, sollte immer hier zu sehen sein...“. Diese positiven Erfahrungen ermutigten uns, den Schüler/innen weitere ihrem Alter entsprechende Informationen zur jüdischen Geschichte und zum Nationalsozialismus anzubieten.

Die Ausstellung war vom 27. November 1998 bis 31. Jänner 1999 in der ehemaligen Synagoge zu sehen.
Martha Keil, November 2000 

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