Steine der Erinnerung
Ludwig Wulkan und seine Frau Auguste, geb. Ringer
„Das Haus in der Herrengasse 1 bildet mit den benachbarten Häusern sozu sagen das Ghetto von St. Pölten. Es ist ein düsteres, unsauberes Haus, wird von drei Judenfamilien und einem arischen Hausmeister bewohnt. Nach der Erwerbung durch die Sparkasse St. Pölten soll das Haus sofort niedergerissen werden.“ (Der Landeshauptmann in Niederdonau an den Reichswirtschafts minister in Berlin, 18. 5. 1940)
Ludwig Wulkan wurde am 26. Mai 1881 in St. Pölten als Sohn von Bernhard Be- risch Wulkan und dessen Frau Josefine, geb. Gross, geboren. Seine Eltern und auch drei seiner vier Geschwister sind am Neuen jüdischen Friedhof St. Pölten begraben. 1911 heiratete er in Prerau bei Olmütz (Mähren) Auguste Ringer, geboren am 7. April 1882 in Kenty (Galizien). Die beiden hatten eine Tochter, Nelly, geb. 1911 in St. Pölten, und nahmen 1927, nach dem Tod von Ludwigs Bruders Feodor, dessen fünfjährigen Sohn Ernst zu sich. Auch Ludwigs Schwester Adele lebte mit Ehemann Julius Körner und den Kindern im selben Haus.
Obwohl Ludwig Wulkan durch eine schwere Gefäßkrankheit beeinträchtigt war, baute er das kleine Geschäft seines Vaters zu einem erfolgreichen Laden für „Spezerei- und Kolonialwaren, Zuckerwaren, Landesprodukte – en gros, en detail“ aus und wurde durchaus wohlhabend. Das Haus Herrengasse 1 besaß er mit seiner Schwester und seinem Neffen Ernst zu je einem Drittel. Gemeinsam mit seiner Frau erwarb er drei weitere Häuser mit Garten und Geschäftslokalen in der Schöpferstraße 14, Franziskanergasse 8 und Mariazellerstraße 6. Allerdings machte ihm das Marktamt das Leben schwer: Zwischen 1923 und 1936 erhielt er mehr als 20 Anzeigen wegen Verstößen gegen das Lebensmittelgesetz und „sanitärer Übelstände“, die angesichts des erfolgreichen Geschäftsgangs doch eher als antisemitische Schikanen zu interpretieren sind.
Ab Februar 1938 war Ludwig durch seine Krankheit nicht mehr arbeitsfähig, seine Frau führte alleine die Geschäfte. Es folgten weitere Denunziationen beim Marktamt, vermutlich durch einen ehemaligen Mitarbeiter. Am 20. September 1938 wurde die Firma gelöscht und das Ehepaar musste die Wohnung in der Herrengasse 1 verlassen. Zwischen Juli und Dezember 1938 bewohnten sie noch nacheinander kleine Wohnungen in ihren Häusern, am Ende durften sie in der Mariazellergasse aber nur noch in einem Kellerzimmer hausen. In seiner Vermögenserklärung führte Ludwig an, dass er für die Ausreise seiner Tochter und anderer Verwandter 15.000 Reichsmark aufgewendet hatte. Seinem Mündel konnte er allerdings nicht helfen – Ernst wurde 1942, gerade 20 Jahre alt, über Theresienstadt nach Auschwitz und Gleiwitz 1 deportiert, überlebte die Vernichtungslager und wanderte nach dem Krieg zu seiner Cousine Nelly nach Santa Monica aus.
Die Liegenschaften der Wulkans wurden zuerst unter kommissarische Verwal- tung gestellt und, da die Besitzer zur Empörung der NS-Behörden den Verkauf verweigerten, im Juli 1942 von der Reichsfinanzverwaltung beschlagnahmt. Am 12. März 1940, also sechs Tage vor dem oben zitierten Schreiben, musste das Ehepaar Wulkan nach Wien 18, Wegelergasse 4 zwangsübersiedeln. Am 15. Februar 1941 hatten sich Ludwig und Auguste im Sammellager der jüdischen Schule in Wien 2, Castellezgasse 35 einzufinden und mussten dort vier Tage ausharren, bis sie am 19. Februar 1941 in das Ghetto Kielce in Polen deportiert wurden. Wann sie den grauenhaften Lebensbedingungen erlagen, ist nicht bekannt.
Nelly konnte mit ihrem Mann Rudolf Seidler, 1905 in Mank geboren, und ihrer sechsjährigen Tochter Ditta in die USA entkommen. Am 17. September 1947 leitete sie den Antrag auf die Todeserklärung ihrer Eltern ein und ließ deren Namen auf dem Grabstein ihrer Großeltern verewigen: „Im Gedenken an meine geliebten Eltern Ludwig und Auguste Wulkan. Sterbetag und Grabstätte unbe- kannt.“ Im Rückstellungsprozess wurde sie von Dr. Egon Morgenstern vertreten, 1949 wurden die Liegenschaften restituiert. Die Überlebenden der Familie Wul- kan kehrten nicht nach St. Pölten zurück.