Steine der Erinnerung


Paul Reiß und sein Bruder Emil
Emil Reiß
„13.9.38: Pflegling hat während der Nacht 1 Hemd, 1 Leintuch, 1 Schutzjacke und 1 Polsterüberzug zerrissen, entschuldigte sich damit, es rege ihn auf, weil gegen die Juden so vorgegangen wird und er keine Hoffnung mehr habe vom Gitterbett hinauszukommen.“ (Krankenakte Emil Reiss, Mauer-Öhling, NÖLA)
Emil Reiss, Pauls jüngerer Bruder, wurde am 26. Jänner 1903 geboren und war bereits 1921 mit der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ in die „Landes 'Heil- und Pflegeanstalt'“ Mauer-Öhling bei Amstetten in Niederösterreich eingeliefert worden. Aus seiner Krankenakte geht allerdings hervor, dass er sowohl imstande war, gegen seine schlechte Behandlung und die allgemeinen Missstände in der Anstalt zu protestieren, als auch die politische Situation realistisch einzuschätzen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass sich nach dem „Anschluss“ sein aggressives Verhalten verstärkte und er wochenlang in Zwangsjacke und Gitterbett verbringen musste. Am 5. Juni 1939 gab er als Grund für seine Unruhe an, dass seine Angehörigen nichts von sich hören ließen – vermutlich wusste er noch nicht, dass seine Mutter mit seiner Schwester Rosa und Familie am 29. Mai nach Shanghai geflohen war. Laut dem Eintrag vom 22. September fragte er oft, „was es mit den Juden noch werden wird, ob sie auswandern müssen“. Sein als Krankheitssymptom diagnostizierter „Vernichtungswahn“ sollte sich als Vorhersage des kommenden Massenmordes erweisen.
Am 26. April 1940 verstarb Emil Reiss offiziell an Lungentuberkulose und einem Abszess am unteren Brustwirbel. Die Krankenakte vermerkt allerdings seine starke Gewichtsabnahme, obwohl „der Patient sämtliche Speisen zu sich nimmt“. Daher ist anzunehmen, dass er wie die meisten seiner Leidensgenossinnen und -genossen nicht ausreichend ernährt wurde. Emil ist eines von mindestens 2.800 Opfern der NS-Euthanasie von Mauer-Öhling. Insgesamt wurden im Deutschen Reich unter nationalsozialistischer Herrschaft mindestens 200.000 „geistig Behinderte“ ermordet, davon 30.000 in der damaligen „Ostmark“.