Steine der Erinnerung
Dr. Viktor Neurath
„Ärztliches Inventar: Augen und OhrenNaseninstrumente, 1 Instrumenten kasten, 2 Instrumententische, 1 Waschtisch, 1 Brillenkasten, 1 Sehprobenkasten, 1 einfacher PerimeterBogen, 1 Hornhautmikroskop, Modell 1913, 1 Tonometer, 1 Astigmometer [...] 1 Waschständer, 1 kleiner Wandspiegel, 2 Sessel, 1 Dreh stockerl, 2 kleine Holztischchen. Das Inventar wurde im Jahre 1913 angeschafft und ist unanbringlich.“ (Beilage zum Vermögensverzeichnis von Dr. Viktor Neurath, St. Pölten, 14. 6. 1938)
Dr. Viktor (auch: Victor) Neurath wurde am 29. Juli 1884 in Wien als Sohn des aus Kolin (Böhmen) stammenden Kaufmanns Maximilian und der Pragerin Louise, geb. Schlesinger, geboren. Beide Eltern verstarben 1923 und in den folgenden Jahren musste er auch den Tod seiner drei Geschwister Ida, Martha und Rudolf betrauern. In seinem Medizinstudium spezialisierte sich Neurath auf Augen-, Hals-, Nasen- und Ohren-Heilkunde, promovierte 1908 in Wien und hielt 1911 als junger Assistenzarzt an der Augenklinik der Universität Wien Ferialkurse ab. Am 20. November 1913, also nur zehn Monate nach der Eröff- nung seiner Praxis in St. Pölten, bedankte sich eine Frau Helene Lendl in der St. Pöltner Zeitung öffentlich „für die erfolgreiche und gute Behandlung meines Kindes, das an einer schweren Hornhautentzündung litt, und für die Heilung meines langjährigen Ohrenleidens“. Dass er auf seinem Gebiet Experte war, beweist Neuraths Artikel „Ueber eine seltene Hornhautkomplikation bei Trachom“ in der Wiener Medizinischen Wochenschrift Nr. 46/1925, in dem er seine zweieinhalbjährige Tätigkeit „auf einer Trachomstation mit einem ständigen Belag von 1200-1300 Kranken“ erwähnt, allerdings leider nicht deren Ort.
Wie so viele Juden der Monarchie kämpfte auch Viktor Neurath für Kaiser und Vaterland, wurde 1916 zum Landsturmoberarzt befördert und erhielt nach viereinhalb Jahren Kriegsdienst 1918 „Das Goldene Verdienstkreuz mit der Krone am Bande der Tapferkeitsmedaille in vorzüglicher und aufopferungsvoller Dienstleistung vor dem Feinde“. Am 22. Juli 1937 gab die Kreiskrankenkasse in den St. Pöltner Stadtnachrichten Neuraths krankheitsbedingten Ruhestand „nach 25-jähriger Dienstzeit“ an.
Am 8. November 1938 meldete sich Viktor Neurath nach Wien 9, Liechtensteinstraße 32–34/6 ab und heiratete am selben Tag die 1899 in Raitz/Buskowitz (Mähren) geborene Anna Streit. Am 23. November 1941 verließ er in einem Transport von 1.000 Wiener Jüdinnen und Juden den Aspangbahnhof nach Kowno, in das Ghetto der litauischen Stadt Kaunas. Er kam am 26. November an, drei Tage später wurden alle Deportierten im Fort IX, einem Teil der alten Befestigungsanlagen, erschossen. Insgesamt wurden in Kowno mehr als 30.000 Menschen ermordet. Wie Viktors Neuraths Frau Anna entkommen konnte, ent- zieht sich unserer Kenntnis, jedenfalls leitete sie am 11. Juni 1947 ein Verfahren zur Todeserklärung ihres Mannes ein und stellte ein Rückstellungsansuchen für sein Grundstück in Wien 2, Nordbahnstraße 26.
In seinem Vermögensverzeichnis gab Neurath auch Schulden „ohne feste Vereinbarung“ von 13.000 Reichsmark bei seinem Neffen Otto Nordon in Brooklyn an, dem Sohn seiner Schwester Ida, verheiratete Nussenblatt, später Nordon. Als Captain Otto Norman Nordon führte dieser im Zuge der Nürnberger Prozesse am 6. November 1945 die Vernehmung des am 13. Dezember zum Tode verurteilten Lagerkommandanten von Neuengamme, Dachau und Lublin-Majdanek Martin Gottfried Weiss (1905 Weiden/Oberpfalz–1946 Landsberg am Lech) durch.