Steine der Erinnerung


Wilhelm Müller
„Der Jude Müller hat seinerzeit das Haus um 19.000 RM [Reichsmark] gekauft und seither nicht die geringsten Aufwendungen zur Erhaltung dieses Besitzes gemacht. Darauf ist es zurückzuführen, dass jetzt so umfangreiche Reparaturen durchgeführt werden müssen, was bei der Bewertung des Hauses selbstver ständlich in Rechnung gezogen werden musste.“ (Eduard Honisch an die Ver mögensverkehrsstelle Wien 1; St. Pölten, 29. 8. 1940)
Wilhelm Müller wurde am 15. 10. 1872 in Polna (Böhmen) als Sohn von Jacob und Karoline, geb. Basch, geboren. Mit seiner Frau Ernestine, geboren am 20. 10. 1867 in Prag, Tochter von Samuel Schreiber und Emilie, geb. Fischl, lebte er in Budweis, wo die Töchter Hedwig (1906) und Zdenka (1907) zur Welt kamen. 1908 zog die Familie nach St. Pölten, 1909 wurde ihre dritte Tochter, Else, geboren. In den 1930er Jahre inserierte Wilhelm Müller regelmäßig im Amtsblatt der Stadt St. Pölten, dass er den „Alleinverkauf für den besten und billigsten Brennstoff“, nämlich Gaskoks aus den Wiener städtischen Gaswerken, innehatte. Wie später aus dem Vermögensverzeichnis zu schließen ist, lief der Brennstoffhandel in der Radetzkystraße 4, wo die Familie auch wohnte, sehr erfolgreich.
Am 3. 5. 1938 starb Ernestine und konnte noch auf dem jüdischen Friedhof St. Pölten ihre letzte Ruhestätte finden. „Wer dich gekannt, du Edle, der weiß, was wir verloren“ ließen ihre Hinterbliebenen auf den Grabstein schreiben. Wilhelm Müller meldete sich bereits am 25. 7. 1938 nach Wien ab, in seiner Villa in der Schubertstraße 1 fanden ab 23. 1. 1939 bis zu ihrer Zwangsübersiedlung nach Wien im Mai bzw. Juni die delogierten jüdischen Rechtsanwälte Dr. Hugo Deutsch und Dr. Paul Kohner ein Dach über dem Kopf; letzterem wird ebenfalls dieses Jahr ein Stein der Erinnerung gesetzt. Die ersten eineinhalb Jahre wohnte Wilhelm Müller in Wien 2, Praterstraße 30 in Untermiete, ab 1. 2. 1940 musste er innerhalb des 2. Bezirks zweimal umziehen. Dann fand er wieder für ein Jahr ein Quartier in Wien 1, Biberstraße 9 und vom 17. 9. 1941 bis 10. 9. 1942 ein weiteres in Wien 2, Praterstraße 33. Von seiner letzten Adresse in Wien 2, Rotensterngasse 24 wurden insgesamt 42 Menschen in die Vernichtung deportiert.
Am 19. 12. 1938 erlegte das Finanzamt St. Pölten Wilhelm Müller eine „Judenvermögensabgabe“ von 16.000 Reichsmark in vier Teilbeträgen auf. Im August 1940 „arisierte“ der St. Pöltner SA-Standartenführer und Mitglied des Deutschen Reichstags Eduard Honisch Müllers 1904 errichtete, unterkellerte und einstöcki- ge Villa mit zwei Veranden und einem großen Garten in der Schubertstraße 1/Ecke Johann Gasser-Straße 18. Den von ihm äußerst gering geschätzten Verkaufspreis des Hauses von rund 7.700 Reichsmark begründete der St. Pöltner Baumeister Josef Weidinger mit zu erwartenden Reparaturkosten in der Höhe von 10.000 Reichsmark.
Wilhelm Müller wurde am 10. 9. 1942 nach Theresienstadt deportiert und bereits am 29. 9. in einem sog. „Altentransport“ für Menschen ab 65 Jahren nach Treblinka überstellt. Die Sterbedaten der in diesem Vernichtungslager Ermor- deten sind nicht überliefert. Einen Monat nach ihrem Vater, am 9. 10. 1942, wurde auch Hedwig Goldmann mit ihrer neunjährigen Tochter Liesl nach Theresienstadt deportiert. Beiden glückte das Überleben und sie emigrierten Ende 1945 zu den Schwestern bzw. Tanten in die USA. Ihr Ehemann und Vater Albert Goldmann hatte sich verzweifelt um eine Ausreise bemüht und brach schließlich nach Italien auf, wo er im Mai 1944 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Er überlebte zwei weitere Lageraufenthalte in Sachsenhausen und Buchenwald, wo er vier Monate vor der Befreiung, am 9. 1. 1945, im Außenlager Ohrdruf-Nord/Buchenwald an einer Blutvergiftung zugrunde ging. Auch die drei 1938 noch lebenden Brüder von Wilhelm Müller wurden in der Shoah ermordet: Max sowie Emil mit Ehefrau Ida in Maly Trostinec und Eduard mit Ehefrau Rita Recha in Auschwitz.
Den beiden anderen Töchtern von Wilhelm und Ernestine Müller – Zdenka Blau und Else, ab 1942 verheiratete Kraus – gelang die Flucht nach Großbritannien und in die USA. Am 1. 7. 1947 meldete Else Kraus für sich und ihre Schwestern Anspruch nach dem Rückstellungsgesetz an. Das Verfahren zog sich fast ein Jahr hin. Erst am 9. 6. 1948, vier Wochen, nachdem Eduard Honisch in einem Volksgerichtsprozess zu Vermögensverfall verurteilt worden war, stellte er den Erbinnen die Liegenschaft zurück, ließ sich allerdings den Kaufpreis durch die geleisteten Reparaturarbeiten ablösen. „Abwesenheitskurator“ von Wilhelm Müller und Vertreter der Töchter war der 1947 aus Palästina/Erez Israel zurückgekehrte Dr. Egon Morgenstern.
Die Eigentumsverhältnisse der „Villa“ an der heutigen Adresse Theodor Körner- Straße 1 konnten nicht geklärt werden – sie ist jedenfalls unbewohnt, verwahrlost und der Garten verwildert.