Steine der Erinnerung


Sigmund Tieger und seine Tochter Herta
„Zum Schluß wurde er mit seiner jungen Tochter nach Polen transportiert, wo er so schwach war, dass ihn Herta, meine Cousine, in einem Kinderwagen führen musste, bis sie dann ermordet wurden.“ (Egon Kalman, Brief an Martha Keil, 17. 10. 1996, Injoest)
Der Kaufmann Sigmund Tieger, geboren am 3. Juni 1877 in Spitz an der Donau, Sohn von Adolf und Anna, geb. Stern, hatte mit seiner Frau Marie, geb. Kohn, drei Kinder: Friedrich, genannt Fritz, geboren am 15. Juni 1904 in Krems, Margarete, geboren am 18. Oktober 1905 in St. Pölten, und, mit großem Abstand, Herta Esther Chana, geboren am 3. März 1920 in Wien. Bereits mit 12 Jahren verlor Herta ihre Mutter, die am 12. Juni 1932 mit nur 55 Jahren starb und am jüdischen Friedhof St. Pölten begraben ist. Das Mädchen war in der jüdischen Gemeinde sehr engagiert, turnte im jüdischen Turnverein Makkabi und war Mitglied des zionistischen Vereins Betar.
Sigmunds Neffe Egon Kalman aus Türnitz hatte während seiner St. Pöltner Schulzeit bei der Familie seines Onkels gewohnt. In einem Schreiben an das Injoest vom November 1996 berichtete er folgendes: „Einige Jahre vor dem Ein- marsch kam ein Bursche zu Sigmund Tieger, er suche Arbeit, er hat nichts zu essen. Die Firma Tieger war inzwischen vom Geschäft in der Domgasse zu einem En gros-Geschäft und auch einem Gemüsestand am Domplatz geworden. So wurde der Bursche ein Hilfsarbeiter beim Gemüsestand, am Markt. Als Hitler kam, war natürlich dieser Bursche in SS-Uniform, und weil er das Geschäft übernehmen wollte, gab er den Befehl, das Geschäft zu schließen. Sobald es geschlossen war, kamen andere SS-Leute, und sagten, Mr. Tieger, alles muss offen bleiben, er würde eingesperrt, wenn er nochmals zusperrt. Kurze Zeit nachher kam der feine Bursche, es müsse sofort zugesperrt werden.“ Am 20. Mai 1938 übersiedelte Sigmund Tieger mit Fritz und Herta in sein Mietzinshaus nach Wien 5, Schönbrunnerstraße 44, und gab dort auch seiner Schwester Margarete mit ihrem Mann Hans Frank Unterkunft. Von dort musste er mit Herta an die Adresse Wien 3, Sechskrügelgasse 8, übersiedeln, die für insgesamt 37 Menschen die letzte Station vor der Deportation war. Fritz und seine Verlobte Magdalena Leb konnten im Oktober 1938 über Italien nach Palästina/Erez Israel entkommen. Margarete und Hans Frank gelang im Mai 1939 die Flucht nach Belgisch-Kongo, sie lebten dort bis zu ihrem Tod 1964 bzw. 1966.
Für Sigmund und Herta Tieger gab es keine Rettung. Wie auch das Ehepaar Schmatnik, dem heuer ebenfalls ein Stein der Erinnerung gesetzt wird, wurden sie am 26. Februar 1941 in das völlig überfüllte und hygienisch katastrophale Ghetto Opole in Polen deportiert. Im Frühjahr 1942 wurde es liquidiert, von den 2008 aus Wien Deportierten überlebten nur 28. Auch Egon Kalmans Eltern waren in diesem Transport. Anfänglich hatte er noch Briefkontakt und erfuhr so die oben zitierten Einzelheiten. Vor allem Sigmund hat wohl die grauenhaften Zustände in Opole nur kurze Zeit überlebt, aber wir kennen weder seinen noch Hertas Todestag. Für seine Schwägerin Anna Tieger, geb. Braun, Witwe seines 1931 verstorbenen Bruders Moritz, wird ebenfalls ein Stein der Erinnerung gesetzt.
Am 24. Februar 1941, also zwei Tage vor seiner Deportation, musste Sigmund Tieger eine „Sondervollmacht“ unterschreiben, mit der er der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ unter Adolf Eichmann die Durchführung sämtlicher Rechtsgeschäfte übertrug. Herta gab im dazugehörigen Vermögensverzeichnis ein Sparbuch mit 300 RM an, ihr Vater ein Barvermögen von 52 RM. Sogar diese kleinen Summen gingen auf das Sperrkonto der Zentralstelle. Ein höchst attraktives Raubgut war allerdings das 700m2 umfassende, 1895 erbaute Haus mit vier Stockwerken „in günstiger Lage“ und „gutem Bauzustand“ im fünften Wiener Gemeindebezirk. Es wurde im November 1941 „zu Gunsten des Deutschen Reiches beschlagnahmt“ und am 27. November 1942 um 93.000 Reichsmark an drei Klagenfurter, Franz Rainer, später Landessanitätsdirektor, Wilhelm Effenberger, später Landesbaudirektor, und dessen Frau Franciska Effenberger verkauft.
Am 14. Oktober 1949 wurde zwischen den Käufern und dem Erben des Enteigneten ein Vergleich geschlossen: Das Haus musste zurückgegeben werden, aber Fritz Tieger musste Franz Rainer, der fünf Siebentel des Hauses besaß, binnen drei Monaten 60.000 Schilling plus 4 Prozent Zinsen zahlen, weil dieser für Sigmund Tieger die Reichsfluchtsteuer, die Judenvermögensabgabe und andere Gebühren entrichtet hatte. Dagegen sollten ab dem 1. November 1949 die Erträge dem Antragsteller gehören. Vermutlich war Fritz Tieger nicht in der Lage, diese hohe Summe – gleichsam eine „Judenabgabe“ im Nachhinein – aufzubringen. In den Archivquellen weist nichts auf eine Restitution hin.
1965 erhielten er und nach seinem Tod 1966 seine Tochter Rachel vom „Fonds zur Abgeltung für Vermögen politischer Verfolgter“ 25.000 Schilling zugesprochen – in Anbetracht des Wertes eines Hauses im 5. Bezirk eine lächerliche Summe. 1952 hatte Fritz Tieger auch in St. Pölten versucht, das geraubte Eigentum seines Vaters zurück zu erhalten, konkret einen Lastwagen der Marke Saurer und einen Betrieb zur Erzeugung von Sauerkraut und eingelegten Gurken am Viehofnerberg. Die „Rückstellungskommission beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien, Außenstelle Kreisgericht St. Pölten“ lehnte die Anträge mit fadenscheinigen Argumenten ab, darüber hinaus hatte Fritz Tieger die Verfahrenskosten zu tragen.
Foto: Gustav Simon © Rachel van Creveld