
Steine der Erinnerung


Rabbiner Dr. Adolf Aron Schächter und seine Frau Rosa Rachel, geb. Aron
„In unserer Gemeinde sind in letzter Zeit starke unerfreuliche Veränderungen eingetreten. Ob und wie lange wir noch hier bleiben, kann ich augenblicklich nicht sagen.“ [...] „An unserem Tempel ist ein Schild: ,Eigentum der Gemeinde St. P.‘, wir haben keine Schul mehr. Alle J. sind bei J. einquartiert, die meisten Häuser gesperrt. Was wird aus uns werden, nur das Vertrauen auf Gott dürfen wir nicht verlieren.“
Diese Zeilen schrieben Adolf und Rosa Schächter am 16. November 1938, kurz nach dem Überfall auf die Synagoge, an ihren Sohn Erich in Jerusalem. Adolf Aron Schächter, am 8. Februar 1872 in Tyrnau, damals Ungarn, geboren, absolvierte seine rabbinischen Studien in Berlin bei dem berühmten Gelehrten Azriel Hildesheimer. Nach seinem verehrten Lehrer wählte er den hebräischen Namen seines Sohnes. In welchem Fach Adolf Schächter promovierte, wissen wir nicht – möglicherweise in Literaturwissenschaften, denn 1904 gründete er in St. Pölten einen jüdischen Literaturverein, der auch bei den katholischen Bildungsbürgern der Stadt große Anerkennung fand. Sein Enkel Se’ev Sher erinnerte sich an die große Bibliothek und die beeindruckende Gelehrsamkeit seines Großvaters.
In Berlin hatte Adolf Schächter Rosa Aron geheiratet, geboren am 21. Juli 1872 in Königsberg. 1897 trat er, noch in der alten Synagoge, das Rabbinat in St. Pölten an, Ende 1901 übernahm er auch das Gebiet Tulln-Amstetten. Er begleitete den Neubau der Synagoge 1912/13, führte die Matrikeln, beaufsichtigte den Religionsunterricht und diente seiner Gemeinde bis zum Ruhestand 1933 und ehrenamtlich auch darüber hinaus. Sohn Erich, 1900 geboren, ehelichte Helene Steiner aus St. Pölten und lebte mit ihr ab 1935 in Jerusalem. Für Helenes Mutter Juliane wird ebenfalls ein Stein der Erinnerung gesetzt. Tochter Ilse, geboren 1904, floh mit ihrem Mann Julius Albrecht Bach im August 1941 in die USA.
Am 31. März 1939 musste das Ehepaar Schächter nach Wien in das Altersheim der IKG Wien in der Großen Schiffgasse 3 zwangsübersiedeln, nur drei Wochen später, am 21. April, starb Adolf und wurde am Zentralfriedhof, 4. Tor, begraben. Seine Frau Rosa zögerte aus mehreren Gründen, die rettende Flucht anzutre ten: Sie wollte das Grab ihres Mannes pflegen, der Familie ihres Sohnes nicht zur Last fallen und auch ihr Alter hinderte sie an einem raschen Entschluss. In einem durch das Britische Rote Kreuz übermittelten Telegramm antwortete sie auf die besorgten Fragen ihres Sohnes: „Freudigst überrascht danke ich bestens. Bin gesund, Altersheim hier. Bleibet alle gesund, haltet gute Feiertage, denkt an mich.“ Das Schreiben trägt einen Poststempel vom 29. September 1942. Fünf Tage vorher, am 24. 9., war Rosa nach Theresienstadt deportiert worden, wo sie am 28. November 1944 den schweren Lebensbedingungen erlag.