Steine der Erinnerung


Moritz Rosenstingl und seine Frau Cäcilia, geb. Löwinger
„Konnten sie im Tod nicht nebeneinander ruhen, so wären sie dann wenigstens auf dem Erinnerungsstein gemeinsam verewigt“. (Urenkelin Christine Koch, Wien, an Martha Keil, 22.2.2021)
Moritz (auch: Moriz) Rosenstingl wurde am 3. Mai 1865 in Spratzern, heute ein Teil von St. Pölten, als Sohn von Leopold und Fanni, geb. Goldschmied, geboren. Seine Familie stammte aus Lackenbach und somit aus einer traditionsreichen orthodoxen Gemeinde Westungarns (heute Burgenland). Seine Frau Cäcilia (auch: Zäzilie, Zilla), geboren am 22. Mai 1865 als Tochter von Josef Löwinger und Netti, geb. Löwinger, war von einem weiter entfernten Ort zugezogen: von Also Pol (heute Nyzhni Vorota, Ukraine). Wann und wo Moritz und Cäcilie heirateten, ist nicht bekannt. Ihre vier Kinder sind jedenfalls in Spratzern bzw. St. Pölten geboren und erhielten nach jüdischer Tradition auch einen hebräischen Namen: Alois Elieser, geb. 1891, studierte Medizin und ordinierte in Wien als Zahnarzt. Die älteste Tochter, Johanna Chana, geb. 1890, überlebte als einziges der Kinder die Shoah in „geschützter Mischehe“. Ihre Schwester Ernestine Ester, geb. 1893, war in St. Pölten mit Mortko Schmatnik verheiratet, beiden wird heuer ebenfalls ein Stein der Erinnerung gesetzt. Mindestens ein Kind, Rosa, erreichte das Erwachsenenalter nicht und ist auf dem alten jüdischen Friedhof begraben, wo noch vier weitere Kinder namens Rosenstingl, jedoch ohne Vornamen, beerdigt sind.
Moritz Rosenstingl scheint als Produktenhändler ausreichend verdient zu haben, um dem einzigen Sohn ein Medizinstudium zu ermöglichen. Welche Umstände zur Verarmung des Ehepaars führten, ist nicht klar. Jedenfalls lebten die beiden nach dem „Anschluss“ von der Unterstützung der Kultusgemeinde St. Pölten, die allerdings kaum die Miete deckte. Nach der Räumung des Geschäftslokals und der Wohnung am Neugebäudeplatz 9 mussten sie in eine Holzbaracke in der Herzogenburger Straße 10 ziehen. Am 1. Juli 1938 bat Cäcilia die IKG St. Pölten um eine Erhöhung der Beihilfen, ihre Notlage begründete sie mit Krankheit. Am 20. Juli 1938 ersuchten beide die IKG um „Unterbringung in das jüdische Versorgungshaus in Wien, damit wir unsere alten Tage unter Juden und ohne große Entbehrungen verleben können.“
Die Übersiedlung in das Altersheim der IKG Wien in Wien 9, Seegasse 9 kam nicht mehr zustande, sechs Wochen nach dem Ansuchen, am 15. August 1938, starb Moritz Rosenstingl. Zwar wurde er laut Sterbematriken am jüdischen Friedhof St. Pölten begraben, doch für einen Grabstein fehlten wohl die Mittel, daher ist die Lage seines Grabes unbekannt. Als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wird er deshalb ebenfalls, gemeinsam mit seiner Frau, einen Stein der Erinnerung erhalten.
Cäcilia verließ St. Pölten erst am 3. April 1940 und zog in den 9. Wiener Gemeindebezirk, ohne genaue Angabe der Adresse. Im Familiengedächtnis präsent ist die Wohnung von Verwandten in der Nussdorfer Straße 4, in der auch Tochter Ernestine mit ihrem Mann untergekommen war. Kurz danach musste sie in eine Sammelwohnung in Wien 2, Im Werd 7/22, übersiedeln, wohin auch ihr Sohn Alois, dessen Frau Lotte, geb. Beiner, und deren Mutter Rosa Ruchel zugewiesen wurden. Am 24. September 1942 wurde sie mit Sohn und Schwiegertochter nach Theresienstadt deportiert – Rosa war bereits einen Monat früher abgeholt worden. Alois und Lotte wurden am 6. September 1943 nach Auschwitz überstellt und zwischen Dezember 1943 und Jänner 1944 ermordet. Cäcilia ertrug Theresienstadt noch mehr als ein Jahr, bis sie am 25. Dezember 1943 starb.
Bild:
Familie Rosenstingl, ca. 1921. 1. Reihe v. l. n. r.: Erwin, Elfriede, Moritz, Cäcilie, Leo, Max (Mortko), Ernestine; 2. Reihe v. l. n. r.: Lotte, Johanna, Leopold, Alois. Die Kinder von Moritz und Cäcilie sind Ernestine, verheiratet mit Max (Mortko) Schmatnik, und deren gemeinsame Kinder Elfriede und Leo, Johanna verheiratet mit Leopold Hengl, und dem gemeinsamen Sohn Erwin – Tochter Hertha ist nicht auf der Fotografie – sowie Alois, verheiratet mit Lotte Beiner. © Christine Koch